P&H: Wie haben Sie dieses spezielle Jahr in Ihrer Funktion als Gemeindepfarrerin erlebt?
Wie die meisten wurden auch wir vom Lockdown im Frühjahr überrollt. Alle unsere Gottesdienste und Veranstaltungen, sowie der Religions- und Konfirmandenunterricht waren von einem Tag auf den anderen abgesagt. Aber es entstand eine Welle an Flexibilität, Fantasie und Kreativität. Ein inspirierender Ideenaustausch in der Landeskirche und mit katholischen Kollegen entstand. Da persönliche Begegnungen nicht mehr möglich waren, wurde die digitale Übertragung ausgebaut: so wurden Gottesdienste, Geschichten für Kinder, lustige und herausfordernde Aufgaben für den Religionsunterricht angeboten, die Konfirmation wurde per Videokonferenz vorbereitet. Eine Religionslehrerin gestaltete ein Heft für den Religionsunterricht zu Hause. Das hat so sehr gefallen, dass die Grosseltern der Kinder gewünscht haben, auch einmal ein solches Heft zu bekommen. Jetzt im Advent ist dieses nächste Heft herausgekommen. Kirchen wurden für individuellen Besuch und stille Andacht geschmückt und ausgestattet, Predigten und Gebete wurden verschickt. Mit persönlicher Kartenpost, mit Spaziergängen durch die Dörfer und natürlich durchs Telefon wurde der Kontakt aufrechterhalten. Die Arbeit in der Kirchgemeinde hat sich zwar mit einem Schlag verändert, aber sie wurde in anderer Form weitergeführt. Es war für uns eine Gelegenheit, uns auf das Grundsätzliche zurückzubesinnen und uns darauf zu konzentrieren2.
Seelsorge dürfte gerade während einer Pandemie, wo insbesondere ältere und alleinstehende Leute noch mehr isoliert sind als sonst, ein sehr wichtiger Punkt Ihrer Tätigkeit sein. Hat man das dieses Jahr gespürt?
Im Bereich der Seelsorge sind wir besonders gefragt. Wir Pfarrpersonen kennen die Leute in der Gemeinde persönlich, wie wenige sonst. Das ist wertvoll, denn wir wissen, wo Einsamkeit, Angst und Depression eine Gefahr sind und können uns besonders um diese Menschen kümmern. Ich habe dieses Jahr so viel telefoniert, wie nie zuvor. Wir nannten es: Aktion rote Ohren. Ob meine Ohren vom Telefonieren wirklich rot geworden sind, konnte ich im Spiegel aber nicht erkennen. Auch jetzt in der zweiten Welle telefoniere ich viel, und wo ich spüre, dass ein Telefonat zu wenig ist, schlage ich einen Besuch vor – mit allen möglichen Schutzmassnahmen. Eine ältere Frau hat mir im Herbst gesagt: «Weisst Du, ich bin seit Dezember 2019 nicht mehr aus dem Haus gekommen, ausser, um ins Spital zu gehen.» Nach dem Lockdown war es daher eine neue Aufgabe, gerade für Seniorinnen und Senioren, die sich schon lange nicht mehr aus dem Haus gewagt haben, ein paar Veranstaltungen anzubieten, auf die sie sich freuen konnten: Bildvorträge oder Lesungen in der Kirche, wo genügend Distanz gewährleistet ist, zum Beispiel. Dafür musste aber erst das Vertrauen aufgebaut werden, dass bei diesen Veranstaltungen keine Ansteckungsgefahr zu befürchten sei. Deshalb haben wir uns fast schon übertrieben an die vorgeschriebenen Schutzmassnahmen gehalten. Im Moment aber sind solche kleinen Freuden wieder nicht mehr möglich – und sie werden sehr vermisst. Auch Jugendliche und Erwachsene sehnen sich nach Abwechslung. Diese darf durchaus einen tieferen Inhalt haben und etwas anspruchsvoller sein. Ich sehe es als Chance für die ganze Gesellschaft, sich vermehrt auch an kleinen Dingen, Anspruchsvollem und Nachdenklichem freuen zu können. Im Moment erlebe ich die Menschen (mich selbst nicht ausgenommen) als reizbarer, empfindlicher. Ich versuche ihnen von meinem Glauben das mitzugeben: Wir sind auch in einer Pandemie in Gottes Hand, bei Gott geborgen. Aus diesem Vertrauen heraus wissen wir: Auch wenn uns Schlimmes zustösst, hat unser Leben Sinn, wir können uns trotzdem für unsere Welt einsetzen und Gutes bewirken. «Wir sind ja immer noch so privilegiert!» Während der ersten COVID-Welle haben die Leute jeden Abend auf den Balkonen für das Pflegepersonal geklatscht. Obwohl es keine konkrete Hilfe war, hat es doch gut getan. Auch alle anderen Hilfsangebote, wie Einkäufe erledigen u.s.w., haben gut getan, den Hilfeleistenden nicht weniger, als den Hilfeempfängern. In der zweiten Welle, in der das Personal in den Spitälern und Heimen gerade auch in unserer Region viel mehr belastet und überlastet ist, klatscht niemand mehr. Das tut niemandem wohl: weder dem Gesundheitspersonal noch den Nicht-Klatschenden, und die Reizbarkeit der Menschen nimmt zu. Im Gegenteil, die Reizbarkeit vermindert sich immer, wenn wir etwas tun können, und sei es noch so unscheinbar. Ich wünsche mir, dass die Welle der Hilfsangebote wieder überschwappt.