In den Jahren 1798–1803 ging ein grosser Erdschlipf über Pusserein nieder. Er war am Spitzlig unterhalb Spinis losgebrochen und erreichte mit seinen Schuttlawinen, sogar den Schrabach. Zwei Häuser im Ägertli und in der Bündti mussten abgebrochen werden, während ein Stall von der Rüfi bis auf das Sand hinuntergetragen wurde. Meine Mutter kannte zwei Augenzeugen dieser Katastrophe, die Brüder Jakob und Friedrich Wilhelm von Pusserein, noch persönlich. Diese Männer, die zur Zeit des Niedergangs der Spitzligrüfi noch Knaben waren, hätten erzählt, sie seien mit Brettern auf den langsam talwärts gleitenden Geröllmassen geritten. Das mit grossen Steinblöcken durchsetzte Geschiebe, muss ja bevor es auf der «Rüfi», auf Rungalätsch und im Chlee zum Stillstand kam, nur noch langsam vorwärts gerutscht sein. Der auf den Ablagerungen wachsende Wald, hat ein Alter von zirka 130 Jahren, was von Förstern bestätigt wird. Nach der Überlieferung hat dieser Bergsturz unmittelbar unter der Abbruchstelle auf dem sogenannten Laubboden, fünf kleinere landwirtschaftliche Güter verschüttet. Weiter unten wurde ein bedeutender Teil der Heimwesen «Rungalätsch» und «Chlee» zugedeckt. Über die Heimwesen von Rungalätsch und Chlee erstreckt sich ein bewaldeter Streifen von zirka 50 bis zirka 100 Meter Breite und etwa 400 Meter Länge. Die Dicke dieser abgelagerten Überschüttung ist niemandem bekannt. Der Wald, der auf der «Rüfi» wächst, so wird dieser abgelagerte Streifen auf Pusserein genannt, unterscheidet sich von anderen Wäldern unserer Region durch einen aussergewöhnlichen Artenreichtum. Der Rüfiwald setzt sich aus folgenden Baumarten und Sträuchern zusammen: Fichte, Weisstanne, Föhre, Eibe, Birke, Buche, Esche, Aspe, Bergahorn, Feldahorn, Spitzahorn, Ulme, Eiche, Linde, Walnuss, wilder Kirschbaum, mindestens drei Arten
Saalweiden, Vogelbeeren, Mehlbaum, Holunder, Erle, Hasel, Hartriegel, Kornelkirsche, Schneeball, Sprengbeere, Faulbaum, Liguster, Korbweide, Berberitze, Weissdorn, Wachholder, Hagebutte, kleine Heckenrose, Niele und Brombeere. Unter den hochstämmigen Bäumen dominieren die Fichten. Unter den Laubholzarten fallen besonders die Birken auf, welche durch den ganzen Wald verstreut zu finden sind. Einen bedeutenden Anteil des Waldes machen die Bergahorne, Eschen (Aspen) und Buchen aus, welche auch zahlreich durch den ganzen Wald verstreut zu finden sind. Mehr im Unterholz sind neben Erlen und Haseln alle oben genannten Kleingehölze und Sträucher zum Teil dicht beisammen und bunt durcheinander gemischt auf der ganzen Rüfi zu finden. Nur in wenigen Exemplaren zu finden sind Eiben, Eichen, Weisstannen, Walnussbäume und Linden. Der Boden dieses Waldes ist übersät und durchsetzt von kleinen und grossen Steinblöcken. Zwischen diesen befindet sich eine beachtliche Menge dunkelbrauner Walderde, ein Dauerhumus, welcher in der relativ kurzen Zeit von gegen 200 Jahren gebildet wurde. Das lockere schon stark verwitterte Sedimentgestein (Bündner Schiefer), bot ideale Voraussetzungen für die Ansiedlung einer artenreichen Flora und Fauna und damit ein intensives, der Humusbildung förderliches Bodenleben. Darum sind auf der Rüfi gewisse Holzarten rascher gewachsen als in anderen Wäldern unserer Region. Am deutlichsten kommt dies bei den Fichten zum Ausdruck, welche auf der Rüfi grobjähriger sind als in den meisten Wäldern unserer Gegend. Die Spitzligrüfi hat ihre dramatische Geschichte in unserem Jahrhundert noch fortgesetzt, und es scheint mir, dass dadurch die alten Überlieferungen neu vor unseren Augen lebendig werden. Zwischen 1940 und 1950 wurde die Rüfi, in kleinerem Ausmass wieder aktiv. Diese Aktivität begann um 1940 sichtbar und hörbar, als am obern westlichen Ende der alten Abbruchstelle der Rüfi eine grössere Felskante losbrach. Ein Stück des Waldbodens neben dem Gut Bilidetta sank in die Tiefe und stürzte mit grossem Krachen über den steilen Abhang hinunter. Es war ein faszinierendes Naturschauspiel, zu sehen wie sich die Gegend um den Spitzlig, begleitet von grossem Krachen in kurzer Zeit veränderte. Das Geröll und Geschiebe schob sich einige hundert Meter durch den Wald hinunter. Von da ab war öfters ein Krachen und Poltern zu hören, wenn wieder ein Stück vom lockeren Schieferfels abbröckelte und in die Tiefe sauste. Das wieder Aktivwerden der Spitzligrüfi mitzuerleben, war eines meiner eindrücklichsten Kindheitserlebnisse.
Die Spitzligrüfi

Betreffend des Zeitpunkts dieser Ereignisse habe ich in einem Schulheft aus dem Jahr 1943 einen zuverlässigen Anhaltspunkt gefunden. Der Lehrer liess uns einen Aufsatz schreiben über die Spitzligrüfi. Ich war damals in der dritten Primarklasse, Wir konnten das Erlebnis der Spitzligrüfi in einer Zeichnung zum Ausdruck bringen. Fortan kam in meinen Zeichnungen hin und wieder die Spitzligrüfi vor. Während einigen Jahren hat sich die Bewegung um den Spitzlig ostwärts in die Breite ausgeweitet. Östlich der alten Abbruchstelle kam in einem Frühling viel Schmelzwasser von einer raschen Schneeschmelze unter abrutschende Geröll-, Schutt-Schlammassen. Dieses diente als Gleit- und Transportmittel, sodass Geröll und Schlamm durch Bachrinnen weit hinunter transportiert wurden. Vom Fenster unserer Schulstube aus, konnten wir beobachten, wie eine solche Gerölllawine mit lautem Getöse durch eine Bachrinne hinunterfuhr. Das grobe Geschiebe blieb dann hauptsächlich im Wald hängen. Nur ein kleiner Teil des Schlammes gelangte am Waldrand auf unsere Wiese. Die Hauptmasse des Geschiebes blieb aber noch weiter oben bis hinunter neben Rungalätsch hängen. Diese Ablagerung bot während einigen Jahren das Bild einer öden, wüsten Landschaft. Heute steht auf diesen Ablagerungen ein dichter Fichten-Jungwuchs. Ähnlich mag es vor etwa 200 Jahren auf den ersten Ablagerungen der Spitzligrüfi ausgesehen haben. Mein Grossvater, welcher im Jahre 1908 das Heimwesen Chlee kaufte, erzählte, dass der Wald auf der Rüfi damals noch das Aussehen eines Jungwuchses hatte. Er erzählte auch, wie er einen Teil der Wiesen räumte, indem er Löcher in Sumpfgebiete grub und Steinblöcke darin versenkte. Auf den steinigen Wiesen wurde das Aufwachsen von Wald durch regelmässiges Abweiden verhindert. Das waldfreie Rüfigebiet wurde über viele Jahre (vier Generationen) durch Räumung oberflächlicher Steine, durch Düngung und stellenweise durch Überschüttung mit Schlamm und Erde laufend verbessert und so ein Teil des verlorenen Wieslandes wieder zurückgewonnen. Bei zwei Landstücken, wo es am meisten Steine hatte, machte ich einen festen Zaun mit Holzpfosten, Brettern und Drahtgeflecht. Die Pfosten ersetzte ich allmählich durch lebendige Pfosten (nachwachsende Bäume und Sträucher) Heute sind diese eingezäunten Flächen zu einem grossen Teil mit Erdbeeren, Johannesbeeren und Himbeeren bepflanzt. Besonders die Erdbeeren und Himbeeren gedeihen dort recht gut und geben gute Erträge aromatischer Früchte. Zur Abwechslung als Fruchtfolge werden Kartoffeln zur Selbstversorgung mit Handarbeit gepflanzt und geerntet. Der Unterschied zwischen alter Wiese und den Wiesen oder anderem Kulturland auf der Rüfi ist noch fast überall deutlich zu erkennen. Wo vor etlichen Jahren nur mit der Sense gemäht werden konnte, kann jetzt nahezu das ganze Wiesland mit dem Motormäher gemäht werden. Man erkennt aber auf den ersten Blick, dass die Wiesen auf der Rüfi nicht so glatt sind wie nebenan. Die Wiesen auf der Rüfi sind auch kräuter- und blumenreicher als die alten Wiesen nebenan. Trotz des steinigen Untergrundes werfen die Wiesen in Jahren mit genügend Niederschlägen einen guten Ertrag ab. Die Zusammensetzung des Pflanzenbestandes, verschiedene Kleearten und Kräuter lässt darauf schliessen, dass die frischen Böden auf der Rüfi eine Reserve an verfügbaren Mineralien und Spurenelementen besitzen. Im Frühling dieses Jahres (2021) und vor wenigen Tagen im vergangenen Herbst wurden am untersten Ende unseres Waldes Fichten, Buchen, Ahorn und andere Bäume für Brennholz gefällt An dieser Stelle stellten wir fest, dass in diesem Waldstück seit dem Niedergang der Spitzligrüfi vor über 200 Jahren zum ersten Mal Bäume gefällt wurden. In diesem Bereich liegt ein grosser Steinblock gerade anschliessend an das Grundstück unserer Nachbarn-Familie Beiz. Von dieser Stelle aus ist der Blick frei nach oben zur Abbruchstelle der Rüfi.
Ein Augenschein in der Umgebung oben bei der Abbruchstelle zeigt, dass die Rüfi in der Zukunft wahrscheinlich wieder aktiv wird.