Eine offene Haustüre, ein herzliches «Willkomm», beides Anzeichen für ein offenes Haus und Herz, begrüsst mich schon vor dem Haus. Und die Jubilarin selbst: «liäbärtig», bescheiden und freundlich wie immer! In der trauten Wohnstube fühl ich mich augenblicklich wohl. Irgendwo im Hintergrund läuft im Radio die «Musikwelle» und verbreitet eine gemütliche Stimmung. Uttis waches Augenpaar, ihre offene Art zu allem, was das Leben bringt, das macht neugierig. Wahrhaftig: die Entwicklung und Veränderung der Welt in einer Zeitdauer von über hundert Jahren selber und gesund mitzuerleben, das ist ein Geschenk. So sieht es Utti Luck selber auch. Sie, in Saas aufgewachsen, in einer Zeit, als der elektrische Strom erst wenig zuvor ins Tal gekommen war, als kurz vor ihrer Geburt die Spanische Grippe in ganz Europa tobte, als der Erste Weltkrieg nur gerade ein Jahr vorbei war und seine Spuren hinterliess... Es gäbe Bände zu füllen, würde man alle Geschehnisse und Ereignisse, welche die Jubilarin im Laufe ihres Lebens miterlebte, auflisten. Das sei aber nicht ihre Art, sagt Utti. Sie schaue lieber vorwärts als zurück. Und dennoch, an einigen wichtigen Daten kommt auch sie nicht vorbei; Höhen und Tiefen eines Menschenlebens, die halt einfach dazu gehören. Schon mit vier Jahren verlor Utti ihre Eltern in Serneus und kam dadurch zu ihrem «Ehni» nach Saas. Zeitlebens war er für sie nicht nur ein wunderbarer Ersatzvater, er blieb für sie immer ein Vorbild.
Erinnerungen sind Lebensstationen
So erinnert sich die Geburtstags-Jubilarin an ihre Schulzeit; damals, als noch keine motorisierten Fahrzeuge durch das Dorf Saas fuhren. Oder als es das erste Auto in Saas gab... Aber auch an die Zeit, als berufliche Tätigkeiten für Frauen noch ein Fremdwort waren. Obschon gerade sie, Utti, zu den Mädchen gehören durfte, welche damals die Frauenschule in Chur besuchen und später sogar das Handwerk mit dem Webstuhl erlernen durfte. Ihr Webstuhl steht übrigens noch heute im Nebenbau, wo sie hin und wieder ihrer Urenkelin Lea diese spezielle Handwerkskunst weitervermitteln darf. Der einfache Landwirtschaftsbetrieb in «Martischgaden», den sie zusammen mit ihrem bereits vor Jahren verstorbenen Ehemann Andres Jahrzehnte lang betrieb, bildete die Existenzgrundlage für die neunköpfige Familie. Ihr Gatte war daneben ein begnadeter Holzschnitzer und -bearbeiter. Durch ihn entstand manch schönes Holzkunstwerk. Und zusammen mit dem Webstuhl von Utti und ihrer Handfertigkeit war darum «Martischgaden» über viele Jahre nebst dem Bauernbetrieb ein Stück weit auch eine Art «Saaser Kunst-Handwerkstatt».
Gerne erinnert sich Utti an die lebhaften Jahre, als die ganze Familie noch zu Hause war. «Jungmannschaft im Haus erhält jung», sagt sie mit Stolz und Schalk. Kein Wunder, dass sie darum über all die Jahre Mittelpunkt der Familie blieb; bis hin zu den Urenkeln im naheliegenden Wohnhaus. Beim Urnani wird auch heute noch fast täglich gemeinsam gegessen, gehengert und im oberen Stock musiziert. Schliesslich ist Utti auch einer der treuesten Fans der familieneigenen «Lenglerkapelle»! Und kein Tag vergeht, ohne dass Urenkel Lenz auf seinem Schulweg nicht einen kurzen Blick und ein frohes «Hallo» in Nani’s Wohnung wirft.