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«Die Krise hat für eine Enttabuisierung gesorgt»

Die Praxis von Alexa Niedermann liegt über den Dächern von Landquart.
Die Praxis von Alexa Niedermann liegt über den Dächern von Landquart. Bild: C. Imhof
Alexa Niedermann trägt viele berufliche Hüte. Sie arbeitet als systemische Therapeutin und Beraterin mit Kindern, Jugendlichen, Familien und Paaren. Als zertifiziertes Mitglied von Systemis gibt sie Kurse, begleitet supervisorisch Personen im Bildungs- und Sozialbereich und noch vieles mehr. In der Karriere der dreifachen Mutter sind immer die Kinder und Fami-lien im Fokus.

Ein bisschen schwierig ist ihre Praxis schon zu finden. Das Glasgebäude zwischen Bahnhof und Coop Landquart ist zwar kaum zu übersehen und doch wäre es nicht die dümmste Idee, wenn Alexa Niedermann ihr Büro im vierten Stock ein wenig besser anschreiben würde. Doch vielleicht hat dieses nicht direkte Finden auch System, denn für die Therapeutin ist es wichtig, in ihrer Praxis einen Ort der Sicherheit zu erschaffen, wo gemeinsam Wege aus belastenden Situationen gefunden werden können.

Wie ein Mobile

Vor zweieinhalb Jahren hat sich Alexa Niedermann selbstständig gemacht. Ihr beraterisches und therapeutisches Angebot wird rege in Anspruch genommen, was sicher auch wegen Corona so sei. «Die Coronasituation hat bei vielen das Gefühl von Kontrollverlusten ausgelöst. Verständlicherweise haben sich viele unsicher gefühlt und sich mit Zukunftsängsten herumgeschlagen.» Geschichten wie das häufige Zusammensein oder auch das Homeoffice hatten bei vielen Familien die sonst schon vorhandenen Problematiken verschärft. Sie sei froh, dass sie mit Zuhören und Inputs eine Hilfestellung leisten konnte. Ihre Arbeit drehe sich oft um das Thema der «Musterveränderung», bei akuten psychischen Erkrankungen leite sie die Klient:innen jeweils weiter an Fachpersonen der Akutpsychiaterie. Ihre Methode sei es die Beziehungen in einer Familie wie ein Mobile zu sehen. «Jede Person ist mit einander verbunden und hat eine Beziehung zueinander. Wenn es jetzt aber bei einer dieser Beziehungen harzt, hat das Auswirkungen auf die ganze Familie und die anderen Verknüpfungen.» Aufgrund von einer Krise fehlen bei vielen oft die Bewältigungsstrategie. Da könne sie Hand reichen und die Personen in ihrem ganz individuellen Lösungsprozess begleiten. «Ich versuche meinen Klient:innen den Weg zu ihren inneren Ressourcen und den eigenen Fähigkeiten aufzuzeigen. So kann man nämlich natürlich aus Krisen kommen.» Alexa Niedermann sieht sich auch nicht als klassische Einzel- oder Familientherapeutin, da alles miteinander verbunden sei. «Am Anfang ist es meist nur eine Frau, die mich aufsucht. Dann kommt sie mit einem Kind oder mit dem Mann und am Schluss sitzt die ganze Familie da. Es ist eben alles miteinander verbunden.»

Die Jugendlichen sind die Verlierer

Seit Corona in der Region nur noch eine Randnotiz ist und die Sicherheitsmassnahmen vom BAG ausser Kraft gesetzt worden seien, habe sich die Situation definitiv sehr entspannt. Die Langzeitwirkung von Corona, vor allem im psychischen Bereich sei aber noch schwierig abzusehen, sagt Niedermann. «Es haben sicherlich alle auf die Krise reagiert, doch man muss auch ganz klar sagen, dass die Jugendlichen sicher als Verlierer raus gehen. Sie wurden in einer wichtigen Phase der Aussenorientierung mit Peers beschnitten und der wichtige Prozess ‹übers du zum ich› wurde einfach so gekappt.» Dass man in einer Zeit, in der man sich von zuhause langsam ablöse, ebenfalls zuhause eingesperrt gewesen ist, sei für das psychische Wohlergehen von Jugendlichen ganz heikel. «Die Konstruktion des Ichs ist in dieser Phase sehr fragil und die sozialen Feedbacks sind elementar für die Zukunft. Drum ist es wichtig, sich solidarisch zu zeigen gegenüber den Jugendlichen, nur schon fürs Durchhalten. Was eben auch schnell vergessen wird ist, dass sie auch sehr viel Solidarität gezeigt haben während der Pandemie.»

Krise als Chance

Alexa Niedermann kann der Krise trotz allem auch Positives abgewinnen. «Menschen leben mit Ritualen und Strukturen. Durch den Wegfall dieser wurden viele Unsicherheiten und dadurch auch eine Diskussion ausgelöst. Heute reden die Menschen nicht mehr nur von physischer, sondern vermehrt auch von psychischer Gesundheit. Klar, ein gebrochenes Bein kann man schneller erkennen, als wenn jemand unter Depressionen leidet. Aber Corona hat dafür gesorgt, dass auch in diesem Bereich eine Enttabuisierung stattgefunden hat und die Menschen mehr Verständnis füreinander haben.» Jetzt gelte es sich in Kulanz gegenüber der beschnittenen Jugend zu üben und auch weiterhin genauer zuzuhören, wenn jemand erwähnt, dass es ihr oder ihm nicht gut geht. Wir sind schliesslich alle irgendwie ein grosses Mobile und hängen da gemeinsam drin.

Christian Imhof