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Leserbrief
Leserbriefe
13.09.2022

Ich habe mich getäuscht

Bild: unsplash
Ein Leserbrief von Carl Kick, Pany

Erster Jagdtag 2022, morgens um halb sechs, ich richte mich ein bei dem Holzstrunk, wo ich letztes Jahr am ersten Tag einen Rehbock erlegen durfte; dieses Mal habe ich mir dort einen Posten eingerichtet, zwei Äste, gegabelt, um meinen Jagdstock darüberlegen zu können, für einen noch sichereren Schuss. Seit vier Jahren komme ich immer wieder hierher …

Vor vier Jahren durfte ich voller Stolz mein Jagdpatentbüchlein entgegennehmen, mein Geschenk an mich zum 65., nach zwei Jahren Ausbildung zusammen mit jungen Bündnerinnen und Bündnern, die mich beeindrucken mit ihrer ernsthaften, seriösen, offenen und freundschaftlichen Art. Bündner Jung-Jägerinnen und -Jäger halt. Drei Jahre Jagd, voller Erlebnisse, voll Stolz, Freude und Demut, angemessenen Jagderfolges, Treffen mit Jäger:innen, immer freundschaftlich, lehrreich, stets interessiert und hilfsbereit. Geschichten von Streit und mehr, kaum glaubwürdig, meine Erfahrungen ganz anders, wahrscheinlich ist’s halt  hier im Mittelprättigau besser. Das Büchsenlicht kommt langsam, da baut sich eine Figur vor meinem Posten auf und starrt in die Dämmerung. Gewohnt an freundschaftliche Begegnungen, flüstere ich «Hoi» und sehe ganz erstaunt, wie sich die Figur einen Weg durch das Gebüsch zu meinem Posten bahnt, sich zu mir herunterbeugt und zischt:

«Höcklescht scho lang da?»
«20 Minuten.»
«Da jaged miär!»
«Aha.»
«Ds ganze Tal da ischt ünscher Gebiat!»

Verdattert weiss ich nicht recht, was antworten, und flüstere: «Angeschrieben war das aber nirgends.» Der Mensch, wohl kaum halb so alt wie ich, schäumt, flüstert aber immer noch, als er mir mitteilt, dass das «Scho nit so guet ischt», wenn sich jemand einfach, ohne zu fragen, oder überhaupt, in ihr offensichtlich als Privatrevier empfundenes Gebiet einschleicht. Er stampft davon, hinein in den Wald, und ich höre ihn zornig in sein Handy zischen. Dann endlich verschwindet er. Erst, als etwa eine halbe Stunde später der erste Schuss fällt, erwache ich aus meiner Starre, der Ärger kommt hoch, das gibt es tatsächlich? Freie Bündner Jagd? Volksjagd? Jägerstolz und Kameradschaft? Missgunst, Neid und Arroganz anstatt Anstand und gegenseitiger Respekt?

Jagdtag zur Sau, gehe nach Hause, verunsichert, ob ich mich ab jetzt bei jedem Ansitz, bei jeder Pirsch mit solchen Typen konfrontieren werde müssen … will ich das? Werde ich dann die Nerven behalten und nicht …? Hab ich mich so getäuscht? Zweiter Jagdtag, halb fünf, ich trete hinaus in die Dunkelheit, voller Trotz.

Von Stolz und Freude keine Spur.

Carl Kick