Home Region Schweiz/Ausland Sport Agenda Magazin
Freizeit
18.10.2022

Aus dem Herbst zurück in den Sommer – Teil 1

Bild: Lucas J. Fritz
Wenn das Herz sich nach der Ferne sehnt und den Menschen nichts an den kalten ­europäischen Winter bindet, so soll er sie wagen, die Reise in den Süden. Unser reisender Reporter Lucas J. Fritz ­erzählt nachfolgend auf er­frischende Weise den ersten Teil seiner fünftägigen Reise zu den Kanaren.

Es war der erste Herbsttag, behaupteten zumindest die Berner Wetterfrösche, und Jeshua war auf dem Weg in den Süden. Das Inselchen La Gomera mitten im Atlantik war sein Ziel. Viel Gepäck hatte er zu schleppen, einen riesigen Rucksack und noch dazu eine grosse Umhängetasche. Darin befand sich alles, was er für die kommenden sechs Monate oder länger würde brauchen – glaubte er zumindest. Von Zug zu Zug schulterte Jeshua sein Gepäck in den Bahnhöfen jeweils auf und wieder ab. Zuerst im Berner Oberland, später in Genf und am Abend des ersten Reisetages im französischen Lyon. Um nach den ermüdenden und muskelverkümmernden Stunden der Zugfahrten den Kreislauf wieder in Schwung zu bringen, schleppte er in Lyon sich und sein Gepäck zu Fuss fünf Kilometer weit zu dem Gebäude mit dem kleinen Zimmer, das er schon Wochen zuvor reserviert hatte. Ebenfalls fünf Kilometer betrug die Distanz vom Strand, an dem er leben wollte, bis in den nächsten Ort. Für Jeshua war dies ein erster Versuch, eine erste Begegnung mit dem Gepäckschleppen. Alle seine bisherigen Abenteuer hatte er mit wesentlich weniger Ausrüstung durchlebt. Müde, aber mit der Gewissheit, dass das Gepäck trotz seines Gewichts auch über weite Strecken schleppbar war, bezog er sein Zimmer. Von Lyon aus ging die Reise weiter über Avignon nach Madrid. Lange Zugfahrten waren ihm immer schon eintönig vorgekommen. Anfangs wusste er nicht recht, was mit der Zeit anzufangen, doch irgendwann dämmerte ihm, dass die gegebene Situation im Zug eine wunderbare Chance darstellte. Warum sich nicht mit einem Fremden unterhalten? Jeder Mensch kann einen anderen etwas lehren, und wenn es nichts zu lehren und zu lernen gab, so war ein Gespräch mit einer völlig fremden Person doch sicherlich unterhaltend, wenn nicht sogar erfrischend. Jeshua befand sich auf seiner eigenen Reise, doch er war nicht alleine unterwegs. Er befand sich nicht in einer menschenleeren Weite, wo es keine Möglichkeit zum Gespräch gab. Der Eisbrecher war eine angeregte Unterhaltung mit einer Notarin aus Marseille über europäische Politik. Die siebenstündige Zugfahrt verging zügig und Jeshua war zufrieden mit dem Gespräch. Die letzte Etappe des Tages war jene zur Hafenstadt Cadiz am Atlantik an der Costa de la Luz. Im Zugrestaurant wurde von einem jungen Sänger und einer Handvoll betagter Herren völlig spontan ein Flamenco aufgeführt. Die Männer hatten sich alle im Zug kennengelernt. Das eine führte zum anderen und schliesslich führten sie diesen Flamenco in leicht angetrunkenem Zustand auf. Das Herz des Reisenden wurde von dem emotional-temperamentvollen Gesang mit begleitendem Klatschen und Steppen tief berührt. Jeshua verstand kaum, was der Mann sang, doch die Art und Weise, wie er sang, würde er nie vergessen. Die Zuhörenden spendierten dem Sänger und seinen Begleitern nach einem feurigen Applaus gemeinsam eine Runde Bier. In Cadiz verbrachte er zwei Nächte.

Der Duft des Meeres

In der Nacht just nachdem Jeshua vom Zugabteil in ein kleines Apartment gewechselt hatte, ging er schnurstracks noch zur Playa de la Caleta de Cadiz. Bevor er das Meer sah oder hörte, roch er es. Die Luft war von Meersalzpartikeln gesättigt und verströmte den Geruch der Freiheit. Dann erst hörte Jeshua das Meer und Tränen stiegen ihm in die Augen. Als er die grenzenlose Weite des Ozeans schliesslich sah, überwältigten ihn seine Gefühle. Tränen flossen über seine Wangen und ein Prickeln überzog seinen Körper von Kopf bis Fuss. Ein halbes Jahr schon hatte er sich zurück ans Meer gewünscht und nun ging sein grösster Traum in Erfüllung. Tief sog er die salzige Brise ein. Seine Sinne waren minutenlang an den Ozean gefesselt. Barfüssig ging er auf dem Sand den brechenden Wellen entgegen. Als seine Füsse vom Atlantik umspült wurden, durchfuhr in tiefer Frieden. Seine Sorgen liessen von ihm ab, sodass er ganz und gar gegenwärtig war. Die erste Hälfte seiner Reise nach La Gomera war geschafft. Als Jeshua knietief im Wasser stand, breitete er seine Arme himmelwärts aus, legte den Kopf in den Nacken und sprach ein Dankesgebet. Er dachte an die Menschen, die er zurückgelassen hatte, und allen voran wünschte er seinem Reisegefährten, der ihn auf seinem ersten grossen Abenteuer begleitet hatte, dass es ihm auch gegönnt sein möge, bald erneut mit den Füssen im Atlantischen Ozean zu stehen. Der darauffolgende reisefreie Tag verging gemächlich. Für die Fähre besorgte sich Jeshua Wasser und frische Nahrungsmittel. Er schlenderte ziellos durch die Altstadt von Cadiz. Manche Zeit stand er still und bewegungslos an einer Strassenecke und beobachtete die Touristen. Beobachtete, wie sich Einzelne treiben liessen im Strom der Masse, und beobachtete mit leichtem Bedauern, wie sich einige von den fremdländisch wirkenden Strassenhändlern übers Ohr hauen liessen. «Dem Europäer fehlt einfach der Sinn fürs Feilschen. Das Feilschen lässt erst jeden noch so winzigen Einkauf zu einem eigens für sich stehenden echten Erlebnis heranwachsen», stellte er in Gedanken für sich fest. Der Tag ging zu Ende und Jeshua freute sich auf den bevorstehenden zweiten Teil seiner Reise zu den Kanaren. Doch davon würde in einer der folgenden Ausgaben zu lesen sein.

Lucas J. Fritz