Aufgeregt liess er mittags in Cadiz die Tür der gemieteten Wohnung hinter sich zufallen. Nun würde er mit der Fähre zu den Kanarischen Inseln reisen. Sein Kopf drängte ihn dazu, erneut darüber nachzusinnen, ob er wirklich alles eingepackt hatte. Sein Herz lachte, denn die Wohnungstür war bereits verschlossen und der Schlüssel lag drinnen, hinter vergitterten Fenstern auf dem gläsernen Esstisch. Zu Fuss ging Jeshua durch die Gassen der Altstadt zum Fährhafen. Mit Solarkocher und mehreren Gaskartuschen ausgerüstet, musste Jeshua kurz schlucken, als er sah, dass weder noch an Bord der Fähre erlaubt war. In der gleichen Warteschlange vor der Gepäckkontrolle lernte er Carl, einen älteren Amerikaner mit dünnem weissem Haar und herzlichen Augen, kennen. Sie fanden schnell einen gemeinsamen Nenner. So wie Jeshua war auch Carl ein Mensch mit der Überzeugung, dass das Reisen die Seele bereichert. Lange Zeit sprachen sie in der Warteschlange stehend über dieses und jenes. Jeshua hegte keine Befürchtung mehr, dass sein Gepäck durchleuchtet oder durchsucht werden würde, denn erstens hatte er dafür viel zu viel Zeug dabei und war der Überzeugung, dass sich der durchschnittlich faule Gepäckkontrolleur dies nicht würde antun wollen. Zweitens war hinter ihm gerade jemand in den Warteraum eingetreten, der äusserst penetrant nach verbotenen Substanzen roch, und die anwesenden Herren des Grenzschutzes zeigten trotz der Offensichtlichkeit keinerlei Regung. Irgendwann waren die Leute mitsamt ihren Habseligkeiten auf die Fähre verfrachtet worden. Jeshua setzte sich an die Sonne und einige Zeit später gesellte sich Carl dazu. Bis kurz vor Sonnenuntergang diskutierten sie über Politik, Energieversorgung, das einfache Leben, die Kanarischen Inseln und ihre persönlichen Vergangenheiten und Zukunftspläne. Als das Gespräch beinahe zum Erliegen gekommen war, warf plötzlich ein stark gebräunter Herr in pinkem T-Shirt und kurzen Badehosen eine Bemerkung in die Unterhaltung. Diese kam daraufhin wieder in Schwung und George stellte sich vor. Er war ein brasilianischer Ingenieur, der sein Leben lang für Ölgiganten wie Exxo Mobil, ESS und Shell gearbeitet hatte und nun seinen mit kaum 60 Altersjahren jungen Lebensabend auf Fuerteventura genoss. Er hatte den beiden überzeugten Ölgegnern wohl bereits eine Weile lang zugehört gehabt und brachte charmant lächelnd mit seinen völlig gegensätzlichen Ansichten neuen Auftrieb ins Gespräch. Der Abend verging. Der Himmel erstrahlte vielfarbig und schliesslich versank die Sonne im Meer. Die Nacht brach herein. Die Herren vertagten das Gespräch, wünschten sich eine gute Nacht und verzogen sich in ihre Kabinen. Auf einem Liegestuhl des Hinterdecks der Fähre errichtete Jeshua seinerseits sein Nachtlager. Er legte sich hin, schloss die Augen und stellte sich den monotonen Lärm des Gasmotors der Fähre als das Geräusch brechender Wellen in Landnähe vor, sodass er kurz darauf einschlief. Die Nacht verging und der Orion und seinesgleichen wanderten am Himmelszelt. Am nächsten Tag sassen die drei Herren von Neuem zusammen und unterhielten sich den gesamten Tag über immer wieder angeregt. Die Zeit, welche sonst vermutlich schleichend vergangen wäre, raste auf diese Weise nur so dahin. Am Abend des zweiten Tages auf der Fähre war es Zeit für Jeshua, Abschied von Carl zu nehmen. Beiden fiel es sichtlich schwer. Nach einem Händedruck folgte doch noch eine herzliche Umarmung und beide schenkten sich das Lächeln der Freundschaft. George verliess die Fähre eine Station später auf der Sanddüneninsel Fuerteventura. Als Jeshua am nächsten Morgen in seinem Schlafsack auf dem Liegestuhl am Hinterdeck erwachte, befand sich die Fähre im Hafen von Las Palmas de Gran Canaria. Nach seinen allmorgendlichen Übungen für Körper und Geist dämmerte es in weiter Ferne am Horizont. Auch an diesem Morgen sah er sich den Sonnenaufgang in seiner ganzen Länge an. Die Stunden vergingen und irgendwann fuhr die Fähre aus dem Hafen. Jeshua stand an der Reeling, blickte ins Tiefblau und schäumende Weiss des Meeres hinab und litt an der Ungewissheit, die Wege von Carl und George vielleicht nur dieses eine Mal in seinem Leben gekreuzt zu haben. Wie schon so oft war es auch in dieser Situation wieder ein innerer Kampf zwischen Herz und Verstand. Der Verstand versuchte, den Abschied einzuordnen, versuchte, dem Herz weiszumachen, dass Begegnungen mit Fremden wiederkehrend seien, und pochte darauf, Carl und George zu vergessen, um nicht weiter an der Ungewissheit zu leiden. Sein Herz jedoch lachte nur in der tiefen Gewissheit, diese Begegnung für immer in sich gespeichert zu haben und in Zeiten der emotionalen Armut und der Einsamkeit sich daran erinnern zu können. Der Glaube und die Zuversicht Jeshuas, dass sich jene Seelen, die miteinander verbunden waren, erneut treffen würden, vertiefte sich von Augenblick zu Augenblick. Seelen, die zueinander gehörten, würden sich wiedertreffen, ob nun in diesem oder in einem nächsten Leben. Während er seinen Zweifel betrachtete, den Kopf und das Herz miteinander kämpfen sah, zog die Fähre an fliegenden Fischen, Schildkröten und Delfinschulen vorbei, ohne dass er gross darauf achtete und deren Schönheit sah. So schüttelte er dann diese ihm lästig gewordenen Gedanken gänzlich ab und vertrieb sich die letzten Stunden auf der Fähre mit der wunderbaren Aussicht auf die grenzenlose Weite des Ozeans. Schliesslich fuhr die Fähre in den Hafen von Santa Cruz de Tenerife ein. Nun würde das eigentliche Abenteuer erst beginnen, doch diese Geschichte sparen wir uns für die nächste Ausgabe auf.
Freizeit
22.10.2022
« Eine Reise an die tropische Sonne » - Teil 2
Bild:
Lucas J. Fritz
Wenn das Herz sich nach der Ferne sehnt und den Menschen nichts an den kalten europäischen Winter bindet, so soll er sie wagen, die Reise in den Süden. Unser Reporter Lucas J. Fritz erzählt nachfolgend auf erfrischende Weise den zweiten Teil seiner fünftägigen Reise zu den Kanaren.