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Freizeit
26.10.2022
26.10.2022 10:24 Uhr

«Mutter allen Lebens» - Teil 3

Bild: L.J. Fritz
Wie ein Hippie leben, danach will er streben. Unser reisender Reporter Lucas J. Fritz erzählt nachfolgend von seiner Ankunft und den ersten Erlebnissen auf der Kanareninsel La Gomera.

«Die Sonne ist meine Uhr und nur nach ihr richte ich mich. Die Uhrzeit existiert für mich nicht mehr. Darum kann ich dir nicht sagen, wie lange ich noch an diesem Strand leben werde. Es kann sein, dass ich eines Morgens aufwache und entschlossen bin, weiterzuziehen», erwiderte der Fremde auf Jeshuas Frage, wie lange er noch an diesem Strand in dieser Höhle leben würde. Der Fremde war stark gebräunt, seine Haare auf dem Kopf und im Gesicht waren durch die starke Sonne heller geworden. Die beiden sprachen unter der brennenden Sonne noch über dieses und jenes, dann zog Jeshua weiter seines Weges. Vor Tagen war er mit der Fähre von Tenerife nach La Gomera gereist. Und noch weiter zurück lag seine Ankunft mit der transatlantischen Fähre in Santa Cruz de Tenerife. Er reiste damals mit dem Bus aus dem Norden der Insel in deren Süden. Bevor er das Paradies erreichte, musste er an der letzten Pforte der Versuchung vorbeischreiten. Diese offenbarte sich ihm in Form der Touristenstadt Los Cristianos. Als fürchterlich nahm er diesen Ort war. Er durchquerte ihn so schnell wie möglich, ohne sich gross umzusehen. Der Lärm der Autos war ohrenbetäubend. Die Touristenmassen versperrten dem Reisenden den Weg. Es war, als wollten sie ihn in Versuchung bringen, müde von der bereits mehrtägigen Reise doch eine Nacht hier zu verbringen. Doch Jeshua war stark. Hier war der Weg, nicht das Ziel. Hier war das Ziel, den Ort möglichst schnell zu passieren und weiterzukommen auf dem Weg. 

Die Fähre brachte ihn schliesslich aus der Hölle in den Himmel. Während der gesamten Fahrt nach San Sebastian de La Gomera liess er seinen Blick nicht von der Insel. Erst war das magische Eiland nur blass am Horizont zu erahnen, doch schon bald darauf legte die Fähre im Hafen der Inselhauptstadt an. Jeshua fühlte sich, als wäre er nur kurz fortgewesen und nun wieder zu Hause angekommen. Hier hatte er vor über einem halben Jahr einen besonderen Stein in der Tiefe des Ozeans mit dem Wunsch, einen Teil seines Herzens an die Insel zu binden, versenkt. Nachdem er sich in einem Laden mit Nahrungsmitteln und einem Wasserkanister für die kommenden Tage eingedeckt hatte, schleppte er sich und sein Gepäck in Richtung des Strandes, an dem er zu allererst leben wollte. Der Weg führte ihn durch die Stadt hindurch, einen Berg hinauf, und als er auf dessen Kuppe angelangt war, legte er eine Pause ein. In seinem Innersten war ihm bereits bewusst, dass er sich und sein Gepäck an diesem Tag im September nicht würde an den besagten Strand schleppen können. Dafür war er nach der langen Reise zu müde. So sah er sich denn nach einem Plätzchen in unmittelbarer Nähe um und wurde schliesslich fündig. Ihm war, als würde die Insel für ihn sorgen. Er hatte kein Hostelzimmer gemietet und kannte dort, wo er hinwollte, niemanden persönlich. Jeshua lebte im tiefen Vertrauen, dass für ihn gesorgt sein würde. Er vertraute darauf, dass sich alles zum rechten Moment ergeben würde, und erzwang nichts. Er war nur Stunden auf La Gomera, und schon hatte sie ihn verzaubert und zu einem völlig anderen Menschen werden lassen. Entspannt und zuversichtlich, beobachtend und abwartend, von Herzen wünschend und dankbar seiend. 

Die ersten Tage und Nächte vergingen. Jeshua erkundete die unmittelbare Umgebung und verbrachte viel Zeit alleine. Seine Reise hierhin empfand er im Nachhinein als energieraubend. Ständig hatte er in den Menschenmassen auf sein Gepäck achtgeben müssen. Ständig war er in Sorge gewesen, dass irgendetwas seine Wiederkehr nach La Gomera vereiteln würde. Doch nichts dergleichen, war geschehen, und nun sass er manche Stunde in der kleinen Höhle, die ihn an jenem ersten Abend gefunden hatte, und reflektierte sich und seine Reise. Die meisten Sorgen, die er sich gemacht hatte, waren vergebens gewesen. Und so begann sein Abenteuer auf der Insel La Gomera. Der Ablauf seiner Tage war von der Sonne bestimmt. Er war morgens und abends aktiv und ruhte in der Mittagshitze. Die Mystik des Sonnenaufgangs, den er täglich direkt von seinem Nachtlager aus erblicken durfte, zog ihn gänzlich in seinen Bann, und die vielen Stunden im Alleinsein brachten ihn seinem Selbst näher. Die Mutter allen Lebens liess seine Haut dunkel werden. Sie zeigte ihm mit ihrer glühenden Strahlkraft seine Grenzen, aber auch seine Möglichkeiten auf. In tiefster Achtung vor der Sonne verbrachte er alsdann seine Tage, liess es sich gutgehen und gewährte sich eine entspannte Ankunft in seiner tropischen Heimat. 

Bild: L.J. Fritz
Lucas J. Fritz