Home Region Schweiz/Ausland Sport Agenda Magazin
Kanton
22.05.2021

«Diese Menschen brauchen unsere Unterstützung»

Landquart ist eine von neun Tischlein-deck-dich-Abgabestellen im Kanton Graubünden (Symbolbild).
Landquart ist eine von neun Tischlein-deck-dich-Abgabestellen im Kanton Graubünden (Symbolbild). Bild: Fabio Baranzini
Vor gut fünf Jahren hat die Schweizer Lebensmittelhilfe Tischlein deck dich in Landquart ihre Tore für armutsbetroffene Menschen geöffnet. P&H hat sich informiert, woher die Lebensmittel kommen und welche Stationen sie durchlaufen.

Seit 16 Jahren setzt die Schweizer Lebensmittelhilfe Tischlein deck dich auch in Graubünden ein Zeichen gegen Armut und Lebensmittelverschwendung. Die konfessionell und politisch neutrale Hilfsorganisation mit Sitz in Winterthur wird ausschliesslich durch Spenden finanziert. Hauptpartner sind Coop, Migros, Transgourmet, die Ernst Göhner Stiftung und die Winterhilfe Schweiz. Seit 2010 ­betreibt Tischlein deck dich zusammen mit dem Schweizerischen Roten Kreuz und dem kantonalen Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit Graubünden (Kiga) das Logistiklager Graubünden.

Sinnvolle Tätigkeit

In diesem Logistiklager ist zurzeit auch die stellensuchende Leonie S. (Name von der Redaktion geändert) tätig. Die Mittvierzigerin rettet zusammen mit elf weiteren Frauen und Männern im Coop-Verteilzentrum in Chur hauptsächlich Früchte und Gemüse vor der endgültigen Vernichtung. «An den Geruch von Fäulnis und abgelaufenen Lebensmitteln habe ich mich sehr rasch gewöhnt», erzählt Leonie S., die mit Plastikhandschuhen «bewaffnet» die noch einwandfreien Tomaten aus einem mit Abfällen gefüllten Gemüsegitter sortiert. Mit ihr zusammen arbeiten elf weitere Einsatzprogramm-Teilnehmer. «Die Arbeit ist sehr anstrengend. Am Abend bin ich jeweils todmüde und frage mich manchmal, warum ich das überhaupt mache.» Sie wirft faule Gurken in einen Müllcontainer und sagt lächelnd: «Dann antworte ich mir selber: ‹Weil du damit anderen Menschen helfen und gleichzeitig auch noch etwas gegen die Lebensmittelverschwendung machen kannst.›» Es sei eine Tätigkeit, die für sie Sinn mache und ihr ein gutes Gefühl gebe.

Einwandfreie Produkte

Die im Verteilzentrum aussortierten Lebensmittel kommen abends ins Logistiklager von Tischlein deck dich am Grossbruggerweg in Chur. Dort absolvieren ebenfalls stellensuchende Personen und auch Zivildienstleistende als Lagermitarbeiter und Fahrer ihren Einsatz. «Von hier aus werden Lebensmittel bei lokalen Produzenten und Händlern abgeholt, zwischengelagert und an die regionalen Abgabestellen verteilt», erklärt Boban Durkalic, Leiter Logistik Region Graubünden bei der Nonprofit-Organisation. Diese Lebensmittel seien einwandfrei, stünden kurz vor dem Verfalldatum, stammten aus Überproduktionen und Falschdispositionen oder deren Verpackung sei beschädigt. «Das Angebot reicht von Getränken über Gemüse und Früchte, Konserven, Süssigkeiten, Brot bis hin zu Milch- und Tiefkühlprodukten sowie Fleisch – dies aber eher selten».

  • Im Logistiklager von Tischlein deck dich am Churer Grossbruggerweg werden einwandfreie Lebensmittel sortiert und zwischengelagert ... Bild: zVg
    1 / 2
  • ... bis sie mit den Lieferwagen der Lebensmittelorganisation an die Abgabestellen gebracht werden. Bild: zVg
    2 / 2

320 Tonnen

Weil all diese Produkte gespendet würden, könne nie vorhergesagt werden, welche Lebensmittel bei der wöchentlichen Abgabe verteilt werden könnten, betont Boban Durkalic. «Im letzten Jahr konnten wir insgesamt 320 Tonnen Lebensmittel retten», freut er sich. Das Logistiklager Graubünden beliefert neun Abgabestellen in Graubünden, darunter auch Landquart, eine im Fürstentum Liechtenstein und zwei im Kanton St. Gallen. «Für Lebensmittel, die nicht alle an den Abgabestellen verteilt wurden, haben wir dankbare Abnehmer wie Kinderheime, Frauenvereine oder auch das Gefängnis», zählt der Leiter Logistik zufrieden auf.

Ein Franken

Wer an einer Tischlein-deck-dich-Abgabestelle Lebensmittel beziehen möchte, benötigt eine Bezugskarte. «Für die P&H-Region haben wir 84 Karten ausgestellt», sagt Daniela Durisch vom Schweizerischen Roten Kreuz Graubünden. Sie ist zuständig für die Ausgabe der Tischlein-deck-dich-Bezugskarten in Graubünden. «Das sind 264 Personen, die am oder unter dem Existenzminimum leben, denen auf diese Weise geholfen werden kann.» Laut Daniela Durisch stellt das Schweizerische Rote Kreuz Graubünden nur auf Antrag von sozialen Fachstellen Bezugskarten aus. Die humanitäre Organisation überprüfe aufgrund der Steuererklärung die finanzielle Situation der Betroffenen und stelle sicher, dass ausschliesslich Personen, die in prekären finanziellen Verhältnissen leben, davon profitieren können. Personen, die nicht Sozialhilfe beziehen, aber trotzdem am oder unter dem Existenzminimum leben, können sich direkt an das Schweizerische Rote Kreuz Graubünden wenden, führt sie weiter aus.

Rege Nutzung

Working Poor, Grossfamilien, ­Alleinerziehende, Migranten und Menschen, die Sozialhilfe beziehen oder eine Invalidenrente erhalten, können einmal in der Woche mit ihrer Bezugskarte für einen symbolischen Betrag von einem Franken Lebensmittel beziehen. «Der Lebensmittelbezug kann keinen Wocheneinkauf ersetzen, jedoch hilft er, das knappe Haushaltsbudget zu entlasten», ist sich Daniela Durisch bewusst.

Auf die Frage, ob der Bedarf an Bezugskarten wegen Covid-19 zugenommen hat, antwortet die Rotkreuz-Mitarbeiterin: «Das Angebot wird momentan rege genutzt. Da unsere Bezugskarten-Zuteilung aus Kapazitätsgründen limitiert ist, sind wir zurzeit in den Abgabestellen Chur und Landquart voll ausgelastet.» Eine Bezugskarte ist jeweils für ein Jahr, das heisst von Oktober bis Oktober gültig. Für ein weiteres Jahr muss bis Ende September ein neuer Antrag gestellt werden. Wie Daniela Durisch betont, muss das Rote Kreuz neue Antragsteller auf Oktober vertrösten.

Abgabestelle Landquart

 
Bezugskarteninhaber 50
Anzahl unterstützte Personen/Woche 150
Menge verteilter Lebensmittel 2020 20 106 kg
Anzahl Freiwillige 24 Frauen und Männer
Verteiltag/Zeit Montag, 14 bis 15 Uhr
Verteilort katholisches Pfarreizentrum

 

Freiwillige Helfer

Montag, 17. Mai 2021, um 13.30 Uhr: Wie jede Woche warten bereits die ersten Tischlein-deck-dich-Kundinnen und Kunden mit Taschen und Rucksäcken ausgerüstet vor dem katholischen Pfarreizentrum in Landquart auf die Lebensmittelabgabe. Im Saal sind seit 13 Uhr elf freiwillige Helferinnen und Helfer dabei, die Lebensmittel und die Produkte für den täglichen Bedarf zu sortieren und ansprechend auf den Tischen, die zu Marktständen aufgebaut werden, zu präsentieren. Sie haben noch gut eine halbe Stunde Zeit, bevor es losgeht. «Wir sind wie ein temporärer Laden, der einmal in der Woche für eine Stunde geöffnet ist», erklärt Margrit Forrer, Leiterin der Abgabestelle in Landquart. Sie ist seit der Eröffnung vor fünf Jahren mit von der Partie. Ihr Freiwilligenteam setzt sich aus insgesamt 24 Frauen und Männern zusammen, die nach Einsatzplan mit viel Engagement für Tischlein deck dich tätig sind. «Wir sind ein gutes Team und schätzen es, offen und transparent miteinander zu kommunizieren», beschreibt Margrit Forrer die Zusammenarbeit mit ihren Teamkollegen.

Gutes zurückgeben

«2020 haben wir 20 106 Kilogramm Lebensmittel verteilt, und in den letzten fünf Jahren waren es insgesamt 130 457 Kilogramm, was einem Warenwert von 782 742 Franken entspricht», erzählt die Stellenleiterin, die neben der Lebensmittelabgabe auch noch für die Administration in Landquart zuständig ist. Was sie antreibe, will P&H von ihr wissen. «Mir ist es im Leben gut gegangen und jetzt, wo ich pensioniert bin, möchte ich davon etwas zurückgeben», antwortet sie. «Jede Woche erleben wir, dass unsere Hilfe Menschen zugutekommt, die unsere Unterstützung dringend brauchen – und in diesen besonderen Zeiten mehr denn je.»

Es ist 14 Uhr. Die Türen der Pfarrei werden geöffnet. Rund 50 Personen warten mit der Zeitangabe auf der Bezugskarte darauf, eintreten zu dürfen.

pd